14. Dezember 2010, Haiti

„Wir brauchen einen langen Atem“ – Interview mit CARE-Mitarbeiterin Sabine Wilke zur Situation in Haiti

Die Wahlen in Haiti sind gerade vorüber, eine Regierung noch nicht wieder gebildet. Cholera breitet sich aus in dem Land, das nach wie vor unter der Zerstörung leidet, die ein schweres Erdbeben im Januar 2010 gebracht hat. Sabine Wilke ist für CARE seit einem Monat in Haiti. In ihren Blogs beschreibt sie ihre Erfahrungen und die Herausforderungen der Hilfe. Wir haben sie aktuell nach der Lage gefragt.

Auf deutschen Bildschirmen sehen wir zurzeit vor allem, dass es in Haiti unruhig ist. Die Haitianer sind doppelt geschunden: Zuerst das Erdbeben, jetzt die Cholera. Wie gehen sie damit um? Breitet sich da nicht rasch Fatalismus aus?

Die Menschen erwähnen in Gesprächen oft Gott und seinen Willen, das ist natürlich eine Form von Fatalismus. Aber die Haitianer schauen auch genau, was ihre Regierung und die internationale Gemeinschaft hier tun. Sie haben konkrete Forderungen und möchten am Wiederaufbau ihres Landes beteiligt sein. Das sind berechtigte und besonnene Forderungen, und dieses Engagement macht Hoffnung. So viele Menschen sind zur Wahl gegangen und protestieren friedlich dafür, dass ihre Stimme zählt. Und sie packen selbst mit an. Hilfsorganisationen wie CARE leisten natürlich wichtige Arbeit. Aber zunächst einmal helfen sich die Menschen selbst: Sie bauen ihre Häuser wieder auf, nehmen obdachlose Verwandte bei sich auf und bemühen sich, etwas Geld zu verdienen. Die Mütter schaffen es, ihre Kinder trotz mangelndem Wasser und dem Dreck und Staub der Stadt morgens in strahlendweißen Blusen zur Schule zu schicken. Aber natürlich herrscht auch Resignation. Das Leben hier ist unvorstellbar hart, und die Situation verbessert sich nur sehr langsam. Dazu kommt jetzt die Gefahr von Cholera. Viele Menschen sind wütend und glauben, Haiti wäre verflucht und es gibt keine Chance für dieses Land.

… so eine Reaktion ist ja nachvollziehbar. Wie gehen Sie persönlich und die Kollegen bei CARE damit um?

Wir müssen zum einen natürlich vorsichtig sein, wenn sich die Stimmung aufheizt, wie gerade, seit gestern die Wahlergebnisse verkündet wurden. Die Sicherheit des CARE-Teams ist unsere erste Sorge, und wenn die nicht gewährleistet werden kann, dann können wir nicht arbeiten. Andererseits sind unsere Mitarbeiter der Schlüssel zum Erfolg und zur Akzeptanz in der Bevölkerung: Sie sprechen kreolisch, kennen die Gemeinden, in denen sie arbeiten und können uns berichten, wenn die Menschen Beschwerden haben. Das ist ein großer Vorteil.

Bisher konnte CARE viel erreichen, auch wenn immer noch unglaublich viel Arbeit anliegt. Können Sie kurz skizzieren, was bisher getan wurde?

In den ersten drei Monaten nach dem Erdbeben hat CARE über 300.000 Menschen mit unmittelbarer Nothilfe erreicht. Das heißt Wasser, Nahrung, Zelte und andere Hilfsgüter. Mit Trinkwasser, Latrinen und Hygiene-Schulungen erreichen wir derzeit rund 50.000 Menschen in Camps. Seit Juni haben mehr als 900 Familien ein Übergangshaus mit festem Dach und 18 Quadratmeter Grundfläche beziehen können. So genannte Cash for Work-Programme haben über 7.000 Menschen jeweils einen Monat beschäftigt. Für fünf bis acht US-Dollar am Tag wurden Straßen gereinigt und Wasserleitungen repariert. Im Norden des Landes haben wir jetzt die Cholera-Nothilfe ausgeweitet und verteilen Hygienepakete mit Seife und Chlor zur Wasserreinigung. Radiostationen und Freiwillige helfen dabei, die Bevölkerung über Schutzmaßnahmen und die Symptome der Krankheit aufzuklären. Aber natürlich ist unser Ziel, noch mehr Menschen zu erreichen.

Das heißt also, dass noch lange nicht alle Haitianer wirklich gut versorgt sind?

Ja. Und so unfassbar das für die Menschen in Deutschland vielleicht klingen mag: Es ist kaum menschenmöglich, allen Betroffenen in so kurzer Zeit umfassend zu helfen. Denn die Bedürfnisse hier sind riesig, und Haiti war schon vorher unvorstellbar arm. Eine solche Armut habe ich noch nirgends gesehen, auch nicht in einigen Ländern Afrikas, die in den Statistiken ja auch weit hinten liegen. Hilfsorganisationen können nur einen Teil dazu beitragen, das Leid zu lindern. Um auf den Vorwurf einzugehen, es würden immer noch zu viele Menschen in Camps leben: Wir liefern in Léogâne und Carrefour Trinkwasser für Camps und bauen dort Latrinen. Gleichzeitig leben die Menschen dort auf engem Raum unter verdreckten Plastikplanen, die Nähe zum Meer führt regelmäßig zu Überschwemmungen. Wir können auf diesem Grund aber keine Übergangshäuser bauen, gleichzeitig wollen viele Familien nicht in ihre zerstörten Viertel zurück. Denn dort gab es auch schon vor dem Erdbeben keine Wasserversorgung, und die Situation ist noch schlimmer als in den Camps. Und nun müssen sie auch noch fürchten, dass sie von dem Land vertrieben werden, auf dem zuvor ihr Mietshaus stand. Wir bemühen uns deshalb, die lokalen Behörden zu unterstützen und schnelle Lösungen zu finden. Gleichzeitig darf man die Menschen aber auch nicht überrennen und ihnen Änderungen sozusagen aufzwingen. CARE verwendet deshalb auch Zeit darauf, mit den Gemeinden zu sprechen, die Ärmsten der Armen zu identifizieren und zu versuchen, gerechte Lösungen zu finden.

Oft befürchten Spender, dass ihr Geld bei dem, was sie von Haiti wahrnehmen, gar nicht ankommen. Die Sorge ist ja durchaus nachvollziehbar. Für Sie auch?

Natürlich verstehe ich, dass es diese Sorgen gibt. Das eigene Geld ist ja hart verdient und jeder Spender sollte sich gut überlegen, an welche Organisation er spendet und sich informieren, wie diese vor Ort aufgestellt ist. Aber die Gedankenkette „Erdbeben – Geld gespendet – jetzt trotzdem Cholera“ ist schlicht falsch. Zum einen ist die Cholera in einem Gebiet ausgebrochen, das vom Erdbeben nicht zerstört war. Aber da dort die Wasserversorgung und die hygienischen Zustände trotzdem miserabel waren, konnte die Epidemie sich so schnell ausbreiten. Zweitens vergessen wir zu schnell das Ausmaß der Zerstörung. Keiner, der kurz nach dem Erdbeben hier war, hätte behauptet, wir können das Land innerhalb von einem Jahr wieder aufbauen. Spender, Hilfsorganisationen und vor allem die haitianische Bevölkerung: Wir brauchen alle einen langen Atem. Und ein weiterer Punkt ist mir sehr wichtig: Natürlich hat CARE noch nicht alles Geld ausgegeben, das Anfang des Jahres gespendet wurde. Der Wiederaufbau hat ja gerade erst angefangen und wird noch Jahre dauern. Aber wir können diese Gelder jetzt nicht einfach in einer anderen Region für die Cholera-Nothilfe einsetzen. Das widerspräche den Grundsätzen von Rechenschaftspflicht und seriöser Planung. Deshalb bittet CARE für den Kampf gegen die Epidemie um weitere Spenden. Ich habe mit eigenen Augen gesehen, dass dieses Geld sinnvoll eingesetzt wird.

Sie sind ja bereits im Februar, drei Wochen nach dem Erdbeben, in Haiti gewesen. Können Sie in wenigen Sätzen den Unterschied zwischen damals und heute beschreiben?

In der Hauptstadt Port-au-Prince ist viel Geröll und Schutt weggeräumt worden. Allein das ist schon eine Mammutaufgabe, denn die Mengen waren enorm und es fehlte an Maschinen und befahrbaren Straßen. Es gibt immer noch zu viele Menschen, die auf den Straßen leben müssen. Und die Cholera, die Angst und die Gerüchte darüber sowie die fragile politische Lage haben die Situation noch verschärft. Die Umstände, unter denen wir momentan arbeiten, erscheinen mir fast noch schwieriger als im Februar. Aber wir machen natürlich weiter.

Letzte Frage, aber wichtig: Weihnachten steht vor der Tür. Bleiben Sie oder werden Sie zu Ihrer Familie nach Deutschland kommen für die Feiertage und zum Jahreswechsel?

Das Büro ist nach Weihnachten eine Woche geschlossen. Unsere Mitarbeiter hier benötigen dringend eine Pause. Aber die lebenswichtigen Arbeiten wie Wasserversorgung gehen natürlich weiter. Ich werde auch hier bleiben und arbeiten. Lebkuchen und Schnee ist für mich gerade unvorstellbar weit weg. Vielleicht habe ich die Möglichkeit, einige Menschen zu besuchen, die mir hier ans Herz gewachsen sind. Aber für die Haitianer wird dieses Weihnachten kein fröhliches Fest sein, so viel ist sicher. Ich hoffe, das sieht nächstes Jahr anders aus. (Care)



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