16. April 2013, Warschau (Warszawa)

Polnische Kleinstädte informieren über jüdische Geschichte

Ein neues Museum in der Hauptstadt Warszawa (Warschau) widmet sich der wechselhaften Geschichte der Juden in Polen vom Mittelalter bis heute. Spuren des einst blühenden jüdischen Lebens begegnet man in vielen Teilen des Nachbarlandes. Seit dem Ende des Sozialismus wächst allerorten das Interesse an der Beschäftigung mit diesem Teil der Geschichte. Ehemalige Synagogen und jüdische Friedhöfe werden saniert, neue Museen entstehen, Festivals widmen sich der jüdischen Kultur.

Einen besonderen Stellenwert nimmt das ehemals jüdische Viertel von Kraków (Krakau) ein. Als der US-amerikanische Regisseur Steven Spielberg dort an Originalschauplätzen „Schindlers Liste“ drehte, wuchs das Interesse für Kazimierz, wo vor dem Zweiten Weltkrieg mehr als 70.000 Juden lebten. Insgesamt sieben Synagogen sind dort noch erhalten. Die kleine Remuh-Synagoge wird von der jüdischen Gemeinde für Gottesdienste genutzt, in der prachtvoll sanierten Tempel-Synagoge finden festliche Veranstaltungen statt, die Alte Synagoge dient als Museum der jüdischen Kultur. Das privat geführte Galizische Jüdische Museum widmet sich der Suche nach jüdischen Spuren in der Region. Rund um die Szeroka-Straße haben sich weitere Institutionen wie die amerikanische Lauder-Stiftung oder das Zentrum für Jüdische Kultur angesiedelt, abends kann man in den Restaurants Klezmer-Musik zu Gefiltem Fisch und anderen jüdischen Spezialitäten erleben. Bereits seit mehr als 20 Jahren findet dort jeden Sommer das größte Jüdische Kulturfestival des Landes statt, das auch von vielen Touristen aus dem In- und Ausland besucht wird.

In Breslau ging während der Pogromnacht am 9. November 1938 die Große Synagoge in Flammen auf. Die klassizistische Synagoge zum Weißen Storch blieb von den Zerstörungen nur verschont, weil sie inmitten eines dicht bebauten Gebiets lag. Sie bildet das Zentrum des jüdischen Kulturlebens im heutigen Wrocław. In dem frisch sanierten Bauwerk widmet sich eine Ausstellung der 800-jährigen Geschichte der Juden in Breslau und Niederschlesien, es finden Konzerte und Kunstprojekte statt. Eine bedeutende Rolle bei der Entwicklung der kulturellen Aktivitäten spielt die aus Norwegen stammende jüdische Künstlerin Bente Kahan. Sie lebt seit einigen Jahren in Wrocław und will mit der von ihr gegründeten Stiftung die Erinnerung an die jüdische Geschichte in der Region wach halten. War Krakau vor 1945 ein wichtiges jüdisches Zentrum in Polen, so spielte Breslau für das jüdische Leben in Deutschland eine besondere Rolle. Zu Beginn des Zweiten Weltkriegs lebten dort etwa 20.000 jüdische Bürger. Bedeutende jüdische Künstler, Wissenschaftler, Unternehmer und Politiker prägten das gesellschaftliche Leben in Deutschland mit. Erinnerungen an sie finden sich auf dem Alten Jüdischen Friedhof, der seit 1991 Teil des Städtischen Museums ist. Dort befindet sich unter anderem das Grab des SPD-Mitbegründers Ferdinand Lassalle.

Einem Spiegelbild der Stadtgeschichte gleicht der Jüdische Friedhof von Łódź (Lodsch), der zu den größten jüdischen Nekropolen Europas zählt. Auf 40 Hektar finden sich insgesamt rund 180.000 Grabstätten. Łódź war im 19. Jahrhundert in kurzer Zeit vom Dorf zum größten Textilzentrum des Kontinents gewachsen. Reiche jüdische Kaufleute wie Izrael Poznański hatten ihren Anteil an dem rasanten Aufschwung. Zu Lebzeiten gehörte ihm die größte Fabrik der Stadt. Sein sieben Meter hohes Mausoleum gehört zu den prachtvollsten Grabstätten auf dem Jüdischen Friedhof. Im ehemaligen Palast von Poznański wird an einen bedeutenden jüdischen Künstler der Stadt erinnert, den Komponisten und Dirigenten Artur Rubinstein. Vor dem Zweiten Weltkrieg lebten rund 200.000 jüdische Bürger in Łódź, heute zählt die Gemeinde etwa 300 Mitglieder. Den Terror der Nationalsozialisten überstand lediglich die kleine Synagoge in der ul. Rewolucji 1905. Die Jüdische Gemeinde denkt allerdings über den Bau eines größeren Gotteshauses nach.

Viele kleinere Orte im Osten Polens waren vor 1945 Zentren des jüdischen Lebens. Dort lebten vor allem arme und strenggläubige Juden. Nur sehr wenige von ihnen überlebten den Holocaust. Ihre Schtetl sind verschwunden, geblieben sind Erinnerungsstücke – jüdische Grabstätten, einzelne Synagogen oder Badehäuser. Einen Eindruck vom Leben in einem Schtetl kann man zum Beispiel bei einer Fotoausstellung in der aus dem 18. Jahrhundert stammenden Synagoge von Kazimierz Dolny an der Weichsel gewinnen. Am Rande der Stadt markiert eine aus alten Grabsteinen geformte Mauer den ehemaligen jüdischen Friedhof des Renaissancestädtchens.

Die zweitgrößte Synagoge Polens befindet sich in der früheren Residenzstadt Tykocin in der Woiwodschaft Podlasie. Das barocke Bauwerk aus dem 17. Jahrhundert, das von den Nationalsozialisten 1941 verwüstet wurde, beherbergt bereits seit 1977 ein Museum der jüdischen Geschichte. Unweit davon wird in Sejny die im 18. Jahrhundert entstandene Weiße Synagoge vom örtlichen Verein Pogranicze (Grenzland) für kulturelle Veranstaltungen genutzt. Der Verein knüpft an die multiethnische und multireligiöse Vergangenheit der Region an und baut heute Brücken über die Grenze ins nahe gelegene Litauen und nach Belarus.

Nahe der Grenze zu Belarus befindet sich in der Kleinstadt Włodawa am Bug eines der am besten erhaltenen jüdischen Gotteshäuser des Landes. Der gesamte Komplex aus Großer und Kleiner Synagoge dient heute als Museum und widmet sich der jüdischen Geschichte der Region. Bis zur Shoah lebten in Włodawa größtenteils Menschen jüdischen Glaubens. Viele von ihnen wurden im nahe gelegenen Lager Sobibór umgebracht. Auch wenn es heute keine jüdischen Bürger mehr in der Kleinstadt gibt, erinnert man dort mit einem Fest der drei Kulturen jedes Jahr im Herbst an das über Jahrhunderte währende friedliche Zusammenleben von Juden, Orthodoxen und Katholiken in der Grenzregion.

In der als Welterbe der UNESCO geschützten Renaissancestadt Zamość wurde im Jahr 2011 die 1610 erbaute Synagoge nach umfangreicher Sanierung wiedereröffnet. Dort befindet sich heute ein Kultur- und Bildungszentrum mit einer multimedialen Ausstellung zur Geschichte der Juden in der Region. Daneben entstand dort das Informationszentrum zur chassidischen Route durch den Südosten Polens. Diese führt in 27 Stationen durch die Woiwodschaften Lubelskie (Lubliner Land) und Podkarpackie (Vorkarpatenland) zu Stätten, die mit dem chassidischen Judentum eng verbunden sind.

Die Erneuerung der Synagoge in Zamość wurde durch die Stiftung für die Erhaltung des Jüdischen Erbes in Polen unterstützt. Sie wird von den Jüdischen Gemeinden Polens mitgetragen und engagiert sich seit 2002 für den Erhalt des Jüdischen Erbes in Polen. So wurden mit ihrer Hilfe die beiden stark zerstörten Synagogen in Kraśnik im Lubliner Land erneuert und zu einem kulturellen Zentrum umgestaltet. Auch die aus dem 16. Jahrhundert stammende Synagoge in Rymanów im Vorkarpatenland konnte vor dem endgültigen Verfall geschützt werden. Die Stiftung hat sich auch für die Pflege und Erneuerung jüdischer Friedhöfe eingesetzt, von denen es rund 1.200 in Polen gibt.

Auch in anderen Regionen Polens widmet man sich dem kulturellen Erbe der ehemaligen jüdischen Bürger. So wurde erst Mitte März 2013 in der früheren Kleinen Synagoge von Płock an der Weichsel ein Museum der masowischen Juden eröffnet. Ein privater Verein hatte sich für die Sanierung des klassizistischen Bauwerks in der Altstadt eingesetzt. Eine multimediale Ausstellung zeigt jetzt den Alltag der ehemaligen jüdischen Bevölkerung in der Woiwodschaft Masowien.

Bis Mitte Juni 2013 soll ein weiteres Museumsprojekt realisiert werden. In der Kleinstadt Chmielnik, einem früheren Zentrum des jüdischen Lebens in der Woiwodschaft Świętokrzyskie (Heiligkreuz), wurde die zuletzt als Getreidespeicher genutzte Synagoge aus dem 18. Jahrhundert saniert. Dort zieht nun ein Bildungszentrum und Museum unter dem Namen „Świętokrzyski Sztetl“ ein. Es soll an das Zusammenleben von Juden und Nichtjuden in der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg erinnern. Bereits seit mehr als zehn Jahren gehört das „Treffen mit der jüdischen Kultur“ zum festen Bestandteil des Kulturkalenders in dieser Kleinstadt. In Chmielnik waren einst 80 Prozent der Einwohner mosaischen Glaubens. 13.000 Bürger waren 1942 in das Konzentrationslager Treblinka deportiert worden.

Die vielen lokalen Initiativen in ganz Polen werden jetzt durch das neue Museum der Geschichte der Juden in Polen in der Hauptstadt Warschau ergänzt. Informationen zu den Projekten der Stiftung für die Erhaltung des Jüdischen Erbes in Polen unter www.fodz.pl, zur Synagoge in Płock unter www.synagogaplocka.pl und über das Projekt „Świętokrzyski Sztetl“ unter www.swietokrzyskisztetl.pl (FVA Polen)



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